# 005 / Babylonische Leiter
Green Wood
Bryan Sentes, übersetzt von Petra Sentes
GREEN WOOD
Bunting's Lucretius' Hymn to Venus on my lips wherever I walk loud as I dare
Where sidewalk shows the worn sanded and salted picked and axed ice is six inches thick
In the fresh air on the corner I cheer up the bent short old woman I see around sharing
her melancholy in French
On my way downtown while I sit alone reading somebody's pubis bumps on my
overcoat's shoulderpad almost in time with the sway of the bus
A short black-haired girl jaunts across Parc to Mount Royal dressed just the same
I smile in the sun all the way down to the metro
Out of Guy station I slip and shuffle myself upright by a quickstep in front of a business
woman with a grin
Talking drinking smoking yelling eating reading for days with friends rarely all together
One morning I read transcribed the thinking of a storm over Halifax
I sing »The Lake Isle of Innisfree« out loud to a friend in the corner of the kitchen in
the middle of Friday night's party
And »...What use had admonitions? And the savage, ravaging locusts in their green
clouds, what effect?...«
The air full of poetry from before Saint Patrick's Day to three days after the Vernal
Equinox
Palm Sunday Passover Full Moon Mahakala Lord of the Tent of the Firmament on the
calendar this month
My Thirtieth birthday spent answering the phone to family choruses
And a call to tell me all about the latest book by the author of The Critique of Cynical
Reason from the Odenwald
The Alaska Earthquake buried a town under a mountain of rock thirty years to the day
The wet snow falls thick and seems to leave a writing on the window I can't read face on
because of the brick wall
As soon as I turn off the stereo the memory of a friend's voice mutters audibly in my
study at the far end of the hall
The refrigerator and faucet play a long duet
Atoms made up themselves finally of nothing
Though they revolve to a minimal melody the repetitions of their relative positions
In harmony with the birth and death of all things
The Sunday a white car drives by and shoots a 29-year-old man on his way to a birthday
party in the heart
GRÜNES HOLZ
Auf den Lippen die Lukrez-Hymne auf Venus von Bunting, wo immer ich gehe,
so laut, wie ich mich zu singen traue
Wo man den Gehweg sieht, ist das ausgetretene mit Sand und Salz bestreute und
behauene Eis sechs Zoll dick
An der frischen Luft an der Ecke muntere ich die gebückte, kleine alte Frau auf,
die ich gewöhnlich sehe, und teile ihre Melancholie auf Französisch
Auf dem Weg in die Innenstadt, während ich allein sitze und lese, stößt jemands
Schambein gegen das Schulterpolster meines Mantels,
fast im Takt mit dem Schwanken des Busses
Eine kleine schwarzhaarige junge Frau überquert die Parcstraße in flottem Schritt
Richtung Mount Royal, gekleidet wie der Jemand
Ich lächle in der Sonne den ganzen Weg hinunter zur Metro
Steige aus an der Station Guy, rutsche aus und halte mich mit einem Quickstepp
und Grinsen vor einer Geschäftsfrau aufrecht
Tagelanges Reden Trinken Rauchen Schreien Essen Lesen mit Freunden, die selten
beisammen sind
Eines Morgens lese ich die transkribierten Gedanken eines Sturms über Halifax
Auf der Party am Freitagabend singe ich einem Freund lauthals »The Lake Isle
of Innisfree« in der Küchenecke vor
Und »... Welchen Nutzen hatten Ermahnungen? Und die wilden, verheerenden
Heuschrecken in ihren grünen Wolken, welche Wirkung? ...«
Schon vor Saint Patrick’s Day ist die Luft erfüllt von Gedichten, noch drei Tage
nach dem Frühlingspunkt
Palmsonntag Passah Vollmond Mahakala Herr des Zelts des Firmaments, diesen Monat
auf dem Kalender
Meinen dreißigsten Geburtstag verbrachte ich am Telefon, nahm Geburtstagsständchen
der Familie entgegen
Und ein Anruf aus dem Odenwald, um mir alles über das letzte Buch vom Autor der
Kritik der zynischen Vernunft zu erzählen
Auf den Tag genau vor dreißig Jahren begrub das Erdbeben in Alaska eine Stadt
unter einem Berg aus Stein
Der nasse Schnee fällt in dicken Flocken und scheint eine Schrift auf dem Fenster
zu hinterlassen, die ich wegen der Mauer aus Ziegelsteinen nicht genau lesen kann
Sobald ich die Stereoanlage ausmache, murmelt die Erinnerung an die Stimme eines
Freundes deutlich hörbar in meinem Arbeitszimmer am anderen Ende des Flurs
Kühlschrank und Wasserhahn spielen ein langes Duett
Atome bildeten sich letztlich aus nichts
Dennoch kreisen die Wiederholungen ihrer relativen Positionen
zu einer minimalen Melodie
Im Einklang mit der Geburt und dem Tod aller Dinge
Am Sonntag fährt ein weißes Auto vorbei und schießt einen neunundzwanzigjährigen
Mann auf dem Weg zu einer Geburtstagsparty ins Herz.
WILL OF THE WISP
You say suddenly you saw
A light moving over the river
Just where the water rushes fastest
Brighter than any torch or lamp
Later a small light low down
Then over a slope seven miles off
You knew by hikes and your watch
No human pace could so quick
Here they trail wagons in blizzards
Swoop like owls to rap at windows
Come in view like oncoming engines
Over no tracks up to those waiting
IRRLICHT
Du sagst, du hättest auf einmal
Ein Licht über den Fluß gleiten sehen
Genau dort, wo das Wasser am schnellsten strömt
Leuchtender als irgendeine Fackel oder Lampe
Später dann ein kleines Licht tief unten
Danach über einem Abhang sieben Meilen weit ab
Du wusstest von deinen Wanderungen und deiner Uhr,
kein menschlicher Schritt könne so schnell sein
Hier verfolgen sie Wagen in Schneestürmen
Stürzen herab wie Eulen, klopfen an Fenster
Kommen in Sicht wie anrollende Loks
Aber nicht über Gleise zu denen hinauf, die da warten
to Laszlo Gefin
»There is a god here!«
In wild strawberry entangling thistles,
In maple saplings, a shroud on loam,
In chestnut and cherry blooms over tree line,
In goldenrod and grass, every green stalk, bowed with seed.
And there is a god who
Quarries slate for imperial highways,
Mines iron-ore out of greed,
Who would have Mount Ság again
Ash and rock.
And there is a god
In the seared, scarred, spent, still,
For lichen, poppies and song
Here rise from the bared
And broken rock to the air!
Note: Mount Ság is an extinct volcano in the rolling hills of western Hungary, whose crater was recreated by the repeated strip mining of Celts, Romans, and moderns. The opening quotation are the words of Laszlo Gefin, a refugee from the 1956 Revolution and an eminent avant garde Hungarian-language poet, on his first visit back to the mountain in 1991.
für Laszlo Gefin
»Hier gibt’s einen Gott!«
In Walderdbeeren, die sich in Disteln winden,
In Ahornbäumchen, einem Leichentuch auf Lehm,
In Kastanien- und Kirschblüten oberhalb der Baumgrenze,
In Goldrute und Gras, jedem einzelnen grünen Halm, gebogen vom Samen.
Und hier gibt’s einen Gott, der
Schiefer bricht für kaiserliche Straßen,
Eisenerz abschöpft aus Habgier,
Der den Ság-Berg gern wieder
in Stein und Asche hätte.
Und hier gibt’s einen Gott
Im Verbrannten, von Narben Gezeichneten, Verbrauchten, Stillen,
Denn Flechte, Mohn und Lied
Steigen hier vom bloßen
Und gebrochenen Stein auf in die Luft!
Anmerkung: der Ság-Berg ist ein erloschener Vulkan in der westungarischen Hügellandschaft, dessen Krater durch den keltischen, römischen und modernen Bergbau wiedergeschaffen wurde. Das Zitat im ersten Vers stammt von Laszlo Gefin, einem Flüchtling der Revolution von 1956 und einem bedeutenden Dichter der ungarischen Avantgarde. Gefin sprach diese Worte bei seiner ersten Rückkehr zu dem Berg im Jahr 1991.
Im Original: Bryan Sentes, Grand Gnostic Central and other poems, Montreal: DC Books, 1998.
Secondary menu
KARAWA.NET ERSCHEINT ZWEIMAL JÄHRLICH / ISSN 2192-1954
